Kunststoffe - Zu Josef Winkler

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« Kunst-Stoffe. Ein Versuch, mit Josef Winklers unberechenbaren Sätzen Gleichungen aufzustellen », in Reinhard Kacianka, Beigesellt, Fernwesend. Beiträge zu Josef Winkler und seinem Werk, Klagenfurt, Kitab, 2004, p. 71-83.

 

Kunst-Stoffe.

Ein Versuch, mit Josef Winklers unberechenbaren Sätzen Gleichungen aufzustellen

 

Als Übersetzer, dem Josef Winkler einmal den biblischen Rat gab „Geh auf den Markt, schaue und schreibe!“ und der seine Texte aus nächster Nähe zur Originalsprache, dem Deutschen, kennt und sie gleichzeitig in die ‚fremde Nähe’ der eigenen Muttersprache übertragen muß, möchte ich mich auf die Suche begeben nach den Bildern, den teils starren, teils mobilen Bildern in Josef Winklers Texten und mir die Frage stellen nach der immer heiklen Gleichung von Text und Wirklichkeit.

 

Knochen

Halswirbel sind nicht nur knochenmäßig herausragend, sondern manchmal auch literarisch: Als André Gide literarischer Berater war bei der Nouvelle Revue française, dem künftigen Gallimard Verlag, lehnte er Prousts Swanns Welt mit der Begründung ab, es gäbe in einer Beschreibung einer der Figuren, der Tante des Erzählers, Wirbelknochen, die fehl am Platz und störend seien[1]. Auch in Josef Winklers Natura morta springen Knochen aller Art ins Auge und wenn es beim Fleischerjungen heißt: Man sah einen großen Leberfleck auf seinem Halswirbel (NM 12), handelt es sich wohl noch um eine gebräuchliche Redewendung, so wie man auch Schlüsselbein oder Schulterblatt sagt und dabei Haut und Knochen in einen anatomischen Topf wirft. In Natura morta sind Knochen aber so präsent – wohl noch zahlreicher als in Friedhof der bitteren Orangen und selbst in Wenn es soweit ist, wo immerhin als Hauptmetapher der Schreibarbeit die schwarze tintenhafte aus den Tierknochen gewonnene Flüssigkeit fungiert, die man den Tieren mit einer Feder aufträgt, um die Fliegen fernzuhalten –, daß man der Meinung sein kann, eine sonst etwas ungenaue oder metonymische Ausdrucksweise müsse hier einer ganz besonderen Sichtweise entsprechen und eine Art Röntgenblick erfasse die Knochen eher als die Haut, die feste, wenig vergängliche Materie eher als ihre organische Kleidung. In dieser Novelle sind die Wörter ‚Kopf’ und ‚Schädel’ quasi austauschbar und wir finden uns wieder inmitten von Schweinsköpfen und Rinderschädeln, von Schweinschädeln und Rinderköpfen (zum Beispiel NM 61).

Fleisch

Dieser Röntgenblick wird dann auch als medizinisches Pendant zu den beschriebenen Marktszenen thematisiert: Zwei nervöse Windhunde am Halsband haltend, ging eine Frau, begleitet von ihrem Kind, das in einem durchsichtigen Plastiksack die schwarze, hartblättrige Radiographie ihres Brustkorbes trug, zwischen den Fisch- und Fleischständen hindurch, zu den Obstständen [...]. (NM 57) An solchen Sätzen wird eines der Grundprinzipien der Winklerschen Wahrnehmung bildhaft erkennbar, das Oxymoron, die Kombination von einander widersprechenden Polen, und dies beispielhaft in dem Titel Natura morta, ein Gemälde, das die lebendige wuchernde Natur im Stillleben stilllegt. So ist die Grundfrage der Mimesis bei Winkler zentral, von Satz zu Satz lebens- bzw. todwichtig, denn Blick und Hand als Organe der Beschreibung versetzen sich dadurch in die paradoxe Situation, daß sie lebendigen Szenen und toten Gegenständen gegenüber selber zwischen Bewegung und Stillstand, zwischen Körper und Kadaver schwanken. Der Maler Francis Bacon, der mit dem Dichter Josef Winkler so einige Gemeinsamkeiten aufweist, nicht zuletzt im Päpstlichen und ganz besonders in der fortwirkenden Auseinandersetzung mit dem Körperlich-Fleischlichen, erklärte in seinem letzten Interview 1992: „Wir alle sind Fleisch, oder? Wenn ich zum Fleischer gehe, wundere ich mich immer, daß ich nicht selber an der Stelle des Fleisches bin. Es gibt bei Aischylos einen Vers, der lautet: ‚Der Geruch menschlichen Blutes geht mir nicht aus den Augen.’“[2]

 

*

 

Ich vollende nichts, ich schließe nichts ab, was ich sage, ist immer nur fragmentarisch, Blitzlichter sollen es sein, die die Landschaft meiner Kindheit und Jugend erleuchten, aber sofort wieder ins Dunkle hüllen (MS 592), schreibt der Erzähler in Muttersprache[3]. Oft beschreibt Winkler seine Arbeitsweise folgendermaßen: das fließende Erzählvermögen sei ihm fremd, der Text bestehe aus Bildern und Sätzen, die er einzeln formt und überarbeitet, bevor er sie dann nebeneinandersetzt und „näht“, um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen[4]. So erst wird der Satz zu einer Einheit, die so viel wie möglich von der Wirklichkeit aufnehmen soll. Dies stellt auch eine Herausforderung an die Übersetzer dar, die die Syntax und den Verlauf der Nähte im Original auf keinen Fall durch zusätzliche Interpunktion begradigen dürfen.

 

Tempora

Daß die Bilder ein Ganzes bilden und daß jedes einzelne von ihnen trotzdem zur Autonomie tendiert, wird auch am Gebrauch der Tempora, insbesondere des Präteritums erkennbar. Diese Beobachtung gilt vor allem für Wenn es soweit ist und für Friedhof der bitteren Orangen. In einem Essay über Flaubert stellt Proust fest, daß einige Schriftsteller fähig sind, ein neues Tempus zu erfinden. Damit meint er selbstverständlich nicht, daß sie neue grammatische Formen zu den schon bestehenden hinzufügen, sondern daß sie Verbformen so einsetzen, daß diese die Art der Wahrnehmung und der Emotionen verändern: „Dieses in der Literatur so neue Imperfekt verändert also vollkommen den Aspekt der Dinge und Lebewesen, so wie es eine Lampe tut, die man an eine andere Stelle rückt, die Ankunft in einem neuen Haus, oder ein altes, wenn man sich mitten im Umzug befindet und es fast leer ist. Diese Art von Trauer, die aus dem Bruch mit den Gewohnheiten und aus der Unwirklichkeit des Dekors entsteht, drückt Flauberts Stil aus, dieser – und wäre es nur dadurch – so neue Stil. Sein Imperfekt dient dazu, nicht nur die Worte, sondern das ganze Leben der Leute wiederzugeben. Die ‚Éducation sentimentale’ ist der lange Bericht eines ganzen Lebens, ohne daß die Personen gewissermaßen aktiv an der Handlung teilnehmen.“ [5]

Es gibt bekanntlich in den meisten romanischen Sprachen mindestens zwei Formen, die dem deutschen Präteritum entsprechen. Das hat Harald Weinrich in „Tempus“ umfassend geschildert. Auf Französisch sind es der ‚passé simple’ oder ‚passé défini’, der sich auf einmalige Begebenheiten in der Vergangenheit bezieht, die abgeschlossen oder zeitlich genau beschränkt sind, und der ‚imparfait’ oder ‚passé indéfini’, der gebraucht wird, wenn etwas sich wiederholt oder länger dauert, wobei allmählich – und nicht zuletzt durch Flaubert – der ‚passé simple’ auf die objektive, meßbare Zeit hinweist, während der ‚imparfait’ ein subjektives Zeitgefühl, die Bergsonsche ‚durée’ wiedergibt.

Beim Übersetzen von Wenn es soweit ist stieß ich immer wieder auf ein Problem: Wie ist die beschriebene Handlung einzuordnen? Ist sie einmalig oder nicht? Wie gehören zwei aufeinanderfolgende Sätze zusammen? Haben wir es mit derselben Zeitebene zu tun oder nicht? Auf ein Plusquamperfekt folgte zum Beispiel ein Präteritum, obwohl das Zeitbild sich von einem Satz zum anderen nicht zu verändern schien. Diese etwas abstrakten Ausführungen bedürfen einer Veranschaulichung durch ein paar Beispiele.

Dorfszene mit Holzkreuz und Beichtstuhlvorhang

Als erstes Beispiel sei eine Seite aus Wenn es soweit ist angeführt. Die Szene beschreibt den Dorfpriester Balthasar Kranabeter: Nach der Zelebration der Messe ging Balthasar Kranabeter mit dem Kirchenschlüssel, an dem ein großes Holzkreuz pendelte, zwischen den Gräbern den mit Steinen gepflasterten Weg entlang, beim quietschenden Friedhofstor hinaus, langsam die Dorfstraße hinauf, Richtung Pfarrhof. Gegenüber den spiegelnden Fensterscheiben des Schulgebäudes blieb er einen Moment lang vor dem Bildstock stehen. [...]Das Holzkreuz am Kirchenschlüssel berührte mehrere Male die rechte Hosennaht des an einem summenden, nach Waben duftenden Bienenstock langsam vorbeigehenden Dieners Gottes. Die dörfliche Stille wurde von mehreren lauten, Mark und Bein durchdringenden, metallen schwingenden Pfauenschreien unterbrochen. Keine zehn Minuten später ging die Pfarrerköchin mit dem verstaubten violetten Beichtstuhlvorhang über ihrem rechten, nackten Unterarm, sich am Bildstock bekreuzigend, die Dorfstraße hinauf, auf den Pfarrhof zu.(W 87-88)

Je nach dem, ob man beim Übersetzen den ‚passé simple’ oder den ‚imparfait’ verwendet, legt man sich an einer solchen Stelle fest. Man entscheidet autoritär, ob nach jeder Messe der Pfarrer und zehn Minuten später die Pfarrerköchin die Dorfstraße hinaufliefen oder ob nur an einem, und dadurch ganz besonderen Tag das Holzkreuz die rechte Hosennaht Balthazar Kranabeters berührte. Dagegen bleibt auf Deutsch durch das Präteritum das ganze Geschehen in der Schwebe. Die vielleicht einmalige Begebenheit hat sich dem Kind so eingeprägt, daß sie zu einem Bild geworden ist, das nicht mehr in eine genaue Epoche einzuordnen ist, sondern sich durchaus mehrmals wiederholt haben könnte, bevor es durch die Sprache verewigt wird.

Zeitensprünge

Das zweite Beispiel soll zeigen, wie der Wechsel der Zeitebenen in aufeinanderfolgenden Sätzen nicht unbedingt konsequent ist – was keinesfalls als Werturteil zu verstehen ist. In dieser Passage tritt Maximilian in das Zimmer ein, wo seine Tante Hildegard gerade dabei ist, die tote Großmutter zu waschen:

Mit rotangelaufenem Gesicht schloß er leise die Tür vor der mit einem nassen Tuch laut betend am Leichnam wischenden Tante, die ein Jahrzehnt vorher den Dreijährigen an der Hand genommen, über die damals noch unasphaltierte Dorfstraße am Bildstock vorbeigeführt, im bäuerlichen Elternhaus seiner Mutter unter den Achseln gefaßt, über einen mit Immergrün geschmückten Sarg gehoben, das schwarze, durchsichtige Nylonbahrtuch zur Seite geschoben und das Kind ins graue, eingefallenen Gesicht seiner Großmutter mütterlicherseits, der Leopoldine Felsberger, hatte blicken lassen, die an einer, wie noch Jahrzehnte später gemunkelt wurde, überdosierte Herzspritze gestorben war. Sie führte den Knaben an der Hand wieder die Dorfstraße hinauf, auf den Bildstock mit der Höllendarstellung zu. Unter den roten, in die Höhe stechenden Flammen, nahe am Kopf der Schlange, die sich um den nackten Oberkörper des schreienden Sünders gewickelt hatte, stand eine Vase mit buschigem, zart duftendem weißem und violettem Flieder, der im selben Garten gepflückt worden war, in dem die Töchter der verstorbenen Leopoldine von einer alten knorrigen Staude die Immergrünzweige abbrachen, die sich mit Sicherheitsnadeln am Bahrtuch befestigten, indem sie die kleinen grünen, gewellten Blätter durchstachen. Ein schwarzer Hahn mit blutigrotem Kamm pickte die gelben, auf dem Höllenboden liegenden Türkenkörner auf, die der zahnlose, bucklige, dem Mesner bei Gottesdiensten helfende Knecht Oswin ausgestreut hatte. (W 65-66).

Dem Inhalt entsprechend kann es sich nur um eine einmalige Begebenheit handeln. Er schloß [...] leise die Tür steht im Präteritum; die Evokation der Vergangenheit steht dann logischerweise im Plusquamperfekt; dann aber, obwohl das Geschehen sich immer noch auf derselben Zeitebene abspielt, stehen die folgenden Sätze wieder im Präteritum. Das Präteritum weist hier paradoxerweise auf eine Vergegenwärtigung hin, die Szene wird präsent, präsenter als jene, die anfangs beschrieben wurde und die sich schließlich eher als Anlaß zu einer intensiveren Erinnerung erweist[6].

Belebte Bilder

Während die Handlungen und Bewegungen langsam werden und zum Stillstand tendieren, werden umgekehrt manche beschriebene Bilder allmählich lebendig. Dies gilt zum Beispiel für die Höllendarstellung auf dem Bildstock, die sich – stellt man mehrere Beschreibungen des Bildstocks direkt nacheinander – zu einer Art kleinem Cartoon entwickeln: Luzifer mit roten Teufelsflügeln beugt sich über den Sünder und gießt ihm einen Becher Galle in den offenen Mund. Zwischen den hochlodernden Flammen der Hölle liegt mit hocherhobenen Händen der vor Schmerz schreiende Sünder. [...] Um den nackten Oberkörper des Gottlosen kriecht eine grüne, dicke, sich seinem Kopf nähernde Schlange. [...] Ringsum lodern und stechen nach Weihrauch und Myrrhe duftende Flammen in die Höhe [...] Der schwarze Mercedes mit den Toten [fuhr] am Bildstock vorbei die Dorfstraße hinauf [...]. Links und rechts an der Kühlerhaube des schwarzen Mercedes waren zwei die Hölle darstellenden Fahnen angebracht. Die roten Flammen flatterten im Fahrtwind. Der verfluchte Teufel vergoß die Galle, nie gelang es ihm, während der Fahrt dem auf dem Boden liegenden und laut nach Vater Abraham rufenden Gequälten den Inhalt des Bechers in den Mund zu gießen. [...] In der mondhellen Septbembernacht liefen [Leopold und Jonathan] mit einem Strick über die Dorfstraße hinauf am Bildstock vorbei, ohne auf die ausgebreiteten, zum Zerreißen gespannten roten Flügeln des Teufels zu achten – Luzifer schwitzte Blut [...]. Der Bildstock mit dem violetten, von Schmetterlingen umschwirrten Flieder spiegelte sich in den Fensterscheiben des Schulgebäudes. Der eitle Teufel hob seinen Schädel und blickte tief in seine rotglühenden Augen hinein. [...] Wenige Monate vor seinem Sterben blieb Kajetan einmal lange vor dem Bildstock stehen, betrachtete [...] die ausgebreiteten, rot gespannten Fledermausflügel des Leibhaftigen, sein spitzes Kinn und seine spitze Nase, betrachtete lange die aus seinem Schädel langsam herauswachsenden, sich wieder zurückziehenden und wieder langsam wie Schneckenfühler erscheinenden Hörner Luzifers [...]. Niemand zweifelte daran, daß Luzifer neugierig seinen Schildkrötenhals über den Rand der Bildstockmauer hinausreckte und auf die über den Dorfhügel kommenden Träger, auf ihr Tun und Treiben achtete. (W 9-10, 24, 47, 96-97, 101, 109, 138-139, 148) Die Szene auf dem Bildstock, die sich auf die Episode mit dem Christusschänder bezieht, d.h. auf den Ausgangspunkt der Geschichte des Dorfes im zwanzigsten Jahrhundert, wird in der Phantasie beweglich. Das gilt auch für ein Familienfoto, das durch das Anschauen und die Erinnerung wieder lebendig, bewegt, riechbar wird, nach einem Verfahren, das an die Zeit erinnert, als die Bilder laufen lernten: Die Torten auf den Fotos [...] waren noch nicht angeschnitten. Das Zimmer roch nach frischgepflückten zwischen den beiden Torten in einer Vase eingefrischten Maiglöckchen und nach Mandeln – die Rosen und verschiedene Verzierungen auf den Torten waren aus Marzipan –, nach verschüttetem Rotwein und nach einer glosenden Zigarre, die der bereits angeheiterte Besitzer der damaligen Konditorei Rabitsch und Chauffeur des Bischofs von Gurk genußvoll rauchte. (W 62)

 

Handarbeiten

Dieses immerwährende Hin-und-Her zwischen Original und Bild, zwischen Bewegung und Starre, basiert auf einem Austauschprozeß, den der französische Literaturwissenschaftler Stéphane Zékian in einem noch unveröffentlichten Aufsatz zu Josef Winkler als einen schwierigen Handel bezeichnet[7]. Nicht zufällig – oder, könnte man sagen, nicht umsonst – spielen so viele Szenen auf Märkten, wo Waren gegen Geld getauscht werden, wo manche kleine Betrügerei gang und gäbe ist, wo aber auch um einiges gebettelt wird. Geld ist mit Arbeit verbunden und der Ich-Erzähler, der den Beinamen „der Arbeitsscheue“ (A 390) erhielt, proklamiert die Gleichwertigkeit von Arbeit auf dem Bauernhof und Schreibarbeit. Wie Arthur Rimbaud könnte er sagen – wenn auch in einem ganz anderen Kontext: „La main à plume vaut la main à la charrue“, „Die Hand mit der Feder gilt soviel wie die Hand am Pflug.“[8] Wie aber löst Winkler diese Gleichung von der Arbeit am Text und der Arbeit des Ackermanns?

Ich kann natürlich die Stallarbeit ohne die Romanarbeit und die Romanarbeit ohne die Stallarbeit nicht mehr machen. (MS 582) Selbst wenn der Erzähler sich dezidiert auf die Seite der Literatur stellt, ist seine Arbeit an der Sprache auch Arbeit an der Wirklichkeit. Text und Wirklichkeit sind einander Prüfsteine. Der Kampf zwischen Wort und Wirklichkeit, die Verwechslung von Wort und Wirklichkeit, sind eines der vom Erzähler selber zur Urszene seines Schreibens erklärten Ereignisse. Winkler erzählte und beschrieb öfter, wie er an einem vorbeifahrenden LKW das Wort Watte las und sich beinahe auf bzw. unter das Fahrzeug gestürzt hätte. Eine Verwechslung kann also tödliche Folgen haben.

Sie wurde, meine ich, in beschreibenden Werken wie Friedhof der bitteren Orangen oder Natura morta sozusagen überwunden. Das Wechselgeld zählt wieder. Als Münzen fungieren hier Teile der Sprache und Teile der Wirklichkeit. So ästhetisierend die Winklerschen Beschreibungen auch sind, so muß der Begriff des Kunstfähigem auch das Häßliche und das Groteske umarmen, damit die Wirklichkeit so restlos wie möglich in den Text übergeht. Caliban und die Monster gehören entschieden dazu. Entstieg Venus-Aphrodite dem Aphros, dem Schaum des Meeres, so bietet Natura morta ein Gegenmodell und Gegenwort dazu: Ein mongoloides Kind faßte eine Barbiepuppe am blonden Schopf und ging damit in die Fluten hinein. Eine gehbehinderte Frau, die ganz dünne Beine, aber einen mächtigen Oberkörper hatte, kroch auf Knien aus dem Meer heraus, auf ihr am heißen Sand ausgebreitetes Badetuch zu. Ihre Brüste berührten den Schaum der Meereswellen und die weißen, heißen Sandkörner. (NM 19-20)

Körperliches, aus der Erde Kommendes und zur Erde Zurückkehrendes, bildet den vorzüglichen Stoff der Winklerschen Texte. Aber Künstliches gehört auch zur Wirklichkeit, auch wenn es gefährlich werden kann, wie die Kunststoffsaris der indischen Frauen, die so leicht in Brand geraten können, so Josef Winkler. Das Künstliche, alle Imitate der Natur werden durch die Kunst geprüft, Kunststoffe werden Stoffe für die Kunst, die alle Bestandteile der Wirklichkeit zwar als natura morta gleichstellt, aber trotzdem den in unserer Wirklichkeit manchmal kaum noch wahrgenommenen Unterschied zwischen Organischem und seinen Surrogaten untersucht: Kunststoffschnuller, Kunststoffwindel, Kunststofftuch, Kunststoffveilchen, Kunststoffsäckchen, Kunststoffhaare, Kunststoffnelken und, last but not least, eine Kunstledertasche und selbstverständlich auch Kunststoffkruzifixe und Kunststoffmadonnen.

Schließlich trägt der Winklersche Erzähler Masken, auf oder unter der Haut: Masken setzte ich auf, während jemand starb. Zur Faschingszeit entblößte ich mein wirkliches Gesicht und ging unbekleidet über die Dorfstraße. (MS 535) Er behauptet damit die eigene multiple Identität, auf subversive Art, abseits des katholischen Kalenders und karnevalisiert den Karneval, dessen Mummenschanz von dem „wirklichen Gesicht“ denunziert wird.

 

Diese Positionen des Erzählers sind Versuche, Wahrheit und Lüge wieder klar voneinander zu trennen. In Muttersprache steht dieser Satz: Ich war, wie meine Mutter zu sagen pflegte, in eine falsche Welt hineingeboren worden. (MS 534) Es heißt zwar im ersten Sinne, „nicht am richtigen Ort“, im Kontext bezieht es sich auf die soziokulturelle Herkunft (in eine Bauern- statt in eine Lehrerfamilie hineingeboren). Aber ‚falsch’ heißt auch unauthentisch und lügenhaft.

Josef der Wahrmünzer

Man kann Winklers Unterfangen als einen Versuch der perfekten Mimesis betrachten oder aber als einen ständigen Kampf mit der Wirklichkeit, die es gilt, zu überwinden. Vielleicht schließen beide Tendenzen einander nicht aus, vielleicht werden sie von einem Werk zum anderen abwechselnd schwächer oder stärker.

In einer pervertierten Ordnung der Dinge versteht sich das Ich als Gegner der Falschmünzer. Biblisch ausgedrückt hieße das vielleicht, als ein Jesus, der die Händler aus dem Tempel vertreibt. Also als einen Wahrmünzer, wobei die Schriftsprache das Mittel ist, die Wirklichkeit auszudrücken, Wahres von Falschem zu unterscheiden. Zahllose Sätze und Metaphern variieren das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Schrift, das Ich versteht sich als ganz der Welt der Schrift und der Sprache verfallen: Ich wollte zwischen Tinte und Löschblatt, zwischen Heften und Buchdeckeln und den Bröseln des Tintenradiergummis aufwachsen. (MS 534) Das suggeriert eine obsessionelle Beziehung zur Schrift, und die Kehrseite liegt in der Gefahr für das Ich, die Wirklichkeit unter der Münzform der Sprache zu zerreiben und zu verlieren.

Auf den klebrigen Butterbroten, die die Mutter in das Volkszeitungspapier einwickelte, las ich die Schlagzeilen, holte einen kleinen Spiegel, hielt ihn aufs Brot und las, was drauf stand. Ich fraß die Buchstaben, die am Brot kleben blieben. (MS 566) Die Papier und Schrift gewordene Realität verwandelt sich in ihr eigenes – umgekehrtes! – Abbild, fettig-klebriges Symbol, welches sich das Ich gierig einverleibt und damit vernichtet, aufhebt. Dieses wundervolle Bild findet sich wieder in der mannigfachen Verwendung von Löschblättern und Wasserzeichen. Konservierte und doch bereits verfallene Wirklichkeit, wie in dem unergründlichen Bild in Wenn es soweit ist, wo die Rückseite eines Löschblattes (trägt sie das Spiegelbild der Sätze, die ihrerseits die Wirklichkeit aufgesaugt, absorbiert haben?) in Hostien Wiederkehr findet: Noch schwebt langsam ein grauer Engelsflügel über den fallenden, sich im Schneetreiben um ihre eigene Achse drehenden und wirbelnden weißen Hostien, auf denen als Wasserzeichen die Rückseite eines Löschblattes mit einem über dem Friedhof schwebenden Grab eingeprägt ist. (W 123)

 

Sicher ist, daß die Sprache der Maßstab bleibt. Der Philosoph Blaise Pascal schrieb, wir müßten „Bilder finden, die stark genug sind, unsere Nichtigkeit zu negieren.“ Bei Winkler ist die Versuchung da, die Wirklichkeit zu negieren, aber das geschieht in einer affirmativen Geste, einer Geste der Selbstbehauptung, die somit zur ‚Überwindung der Wirklichkeit’ wird: Der verbale Nachvollzug des Erlebten muß so stark sein, daß ich tatsächlich das Gefühl habe, daß die Sprache stärker ist als das Erlebnis: von diesem Augenblick an existiert meine Literatur. Wenn meine Sprache stärker ist, habe ich das Erlebnis überwunden und überwältigt.[9]

 

Bernard Banoun

 

 

Abkürzungen

A Der Ackermann aus Kärnten

MS Muttersprache

NM Natura morta

W Wenn es soweit ist



[1] Gide gibt diese Begründung in einem Brief an Proust im Januar 1914.

[2] Francis Bacon, „Interview mit Franck Maubert“, Paris Match, 1992. (Übersetzung BB)

[3] Eine solche Ars poetica gilt wohl weniger für neuere Texte, auch nicht für die kurz nach Muttersprache entstandene Verschleppung.

[4] So Josef Winkler im Gespräch mit Hubert Patterer am 23. Juni 2003.

[5] Marcel Proust, „Über den ‘Stil’ Flauberts“, in Marcel Proust, Essays, Chroniken und andere Schriften, hrsg. Luzius Keller, Werke I, 3, übersetzt von Henriette Beese, Luzius Keller und Helmut Scheffel, Frankfurt-am-Main, Suhrkamp, 1992, p. 390-410. Hier S. 396.

[6] Hier mag aber auch eine Besonderheit des süddeutschen Gebrauchs der Zeiten eine Rolle spielen. Ich bin Hans-Ulrich Müller-Schwefe für diesen Hinweis dankbar.

[7] Stéphane Zékian, „La fin du crédit, ou comment donner le change : Josef Winkler et les signes“.

[8] Arthur Rimbaud, „Mauvais sang“, in Une saison en enfer („Böses Blut“, in Ein Aufenthalt in der Hölle, Übertragung von Thomas Eichhorn, Nachwort von Bernhard Albers, Aachen, Rimbaud, 2001, S. 7.)

[9]Notiz“, in manuskripte 62 (1978), p. 78.